Sonntag, 24. Januar 2016

ES

ES

Etwas rannte durch die Küche und in die Stube. In die Gute.
Es war keine Sie, kein Er, nicht alt, noch jung. Aber: es war klein. Winzig klein, blitzschnell und unheimlich frech. Unfassbar.
Es kicherte, kreischte, schimpfte laut und fauchte Unverständliches während Es anfing die Bücher aus dem Büchergestell zu werfen. Eines nach dem anderen.
Sie war sprachlos.
Es brachte alles durcheinander. Oben war unten, rechts war links, nichts war mehr wie es war.
Ihre Welt stand plötzlich Kopf und nichts passte mehr zusammen. 
Ihre wunderbaren Bücher, die Geschichten … ein einziges Wirrwarr.
Sie stand da, wie gelähmt und sah wie Es in Buchdeckel biss.
Dann wälzte Es sich lachend zwischen herausgefallenen Seiten und zerknüllten Umschlägen.
Ihr wurde schwindlig. Buchstaben tanzten vor Ihren Augen.

Sie musste eingeschlafen sein.  Oder ohnmächtig. Als sie wieder aufwachte war es dunkel. Und schwer. Sie wusste nichts. Gar nichts. Nicht wer sie war. Noch wo sie sich befand.
Sie tastete vorsichtig um sich.  Alles was sie zu fassen bekam, erinnerte sie an nichts.
Aus der Stille kroch ein Kichern. Hülsenworte wirbelten um ihren Kopf.  Ihre Ohren waren voller Irrwitz. Und doch hörte sie nichts.
In ihren Haaren aber, sass Es und schüttelte Geschichten aus den Büchern.
ihre Geschichten. Ihre Erinnerungen. Vereinzelte Wortfetzen blieben an ihr hängen, doch sie bemerkte sie nicht. Es war zu dunkel, zu kühl alles.
Bevor die Leere sie wieder verschluckte, ahnte sie etwas. Etwas wie Verbannung.

Sie schreckte hoch, als ein Buch auf sie fiel. Und noch Eins. Ein Grosses traf sie am Kopf. Eines fiel auf ihre Zehen. Ihre Finger verhedderten sich in losem Papier. Sie suchte Halt. Doch da war nichts, nur Buchstaben die ihr aus den Händen rieselten.
Es hockte auf ihrer Brust,  gestikulierte, und leerte lautlos noch immer Bücher aus.
Bücher? „Was Bücher wohl sind“, dachte sie. „Und wozu sollen die gut sein?“
Es war totenstill. Ihr war kalt. Sie wollte schlafen. Einfach nur schlafen.
Das Nichts um sich herum und das in ihr vergessen.
Doch Es liess sie nicht in Ruhe.
Es war unruhig geworden. Genervt.  Als hätte Es zu wenig Aufmerksamkeit.
Irgendetwas kitzelte sie. An Flucht war nicht mehr zu denken.
Es stopfte ihr Wortfetzen in die Nasenlöcher;
Satzzeichen zwischen die Zähne. Bis sie reagieren musste.
Sie schüttelte sich, spuckte, nieste und setzte sich auf.
Wo war dieses Es, was wollte es von ihr? Und Warum?
Plötzlich waren da tausend Fragen. Überall
Und in der Mitte sass Es. Grinsend und glucksend. Es schien sehr amüsiert.
Mit seinen langen weissen Fingern malte es unlesbare Zeichen in die Luft, die sich zischend sofort wieder auflösten.
„Es ist Geistzeit“, dachte sie.
Ein Gedanke. Haarscharf und ihr ganz eigener. Schnell griff sie danach, hielt ihn fest in ihrer Hand.
Sie liess sich nichts anmerken. Starrte weiter auf die Bücherberge vor ihr und schwieg.
Die Zeit tropfte. Jetzt. Als Es gerade an einem dicken Schmöker nestelte und nicht aufpasste, liess sie diesen Gedanken schnell in einem Buch verschwinden.
Es hatte sich, unterdessen, einen Thron gebaut. Aus  wunderschönen alten Büchern . Da sass Es und feixte.
„Es ahnt nicht, dass ich anfange mich zu erinnern“, dachte sie. Gut so.

Nach und nach gingen ihr Buchtitel, oder wenigsten Bruchteile davon, durch den Kopf und in der Morgendämmerung konnte sie schemenhaft die passenden Bücher anhand der Grösse zuordnen.
Hinten links, das ganz dicke, schwere Buch, musste eine Märchensammlung sein. Wenn sie nur etwas mehr ihre Augen zukneifen würde, sicher würde sie, hier oder dort, eine Gestalt erhaschen, die sich aus dem Buch geschlichen hatte, eine Hinweis irgendwas… weit kann ja nichts gekommen sein.
Sie schwitzte. Die Unauffälligkeiten waren anstrengend.
Wenn sie sich nur wenigstens an ihren Namen erinnern könnte.

Sie hatte fast vergessen, dass Es noch da war. Sie musste auf der Hut sein, Es war unberechenbar. Sie durfte Es nicht unterschätzen. Und, als ob Es nun auch ihre Gedanke hören könnte, fing Es an zu lachen, ganz leise, rieb sich die winzigen Hände und zupfte demonstrativ vereinzelte Buchstaben vom Teppich, schubste sie durch den Raum bis sie vor ihr liegen blieben. Es lachte fürchterlich.
Sie hielt sich die Ohren zu.
Es brabbelte Unverständliches,  wirre Wörter  füllten erneut den Raum und Ihre Sinne drohten zu schwinden.

Da schickte die Sonne ihr erstes Licht durch das Fenster.
Das Häufchen Buchstaben vor ihr glänzte matt. Plötzlich konnte sie sehen.
Ein M , ein i, ein r , ein a… lautlos setzte sie die Buchstaben zusammen, fädelte sie in einer Reihe auf.
Heimlich fingen einzelne Buchdeckel an zu wippen, klappten auf und zu, Papier raschelte leise.
„Mira, Mira, Mira…“
Schon fürchtete sie einen neuen Spuk. Aber irgendetwas war anders. Freundlicher.
Da bemerkte sie, dass Es eingeschlafen war.
Wie unvorsichtig von Ihm.  Immer eindringlicher raunte dieses „Mira“ durch ihren Kopf.
Das war Ihr Name. Sie wusste es so plötzlich wieder, wie sie es vergessen hatte!

In Windeseile ordnete sie die herum liegende Bücher nach Grösse und Farbe, schnupperte an Papier, sortierte Seitenzahlen, strich Buchumschläge glatt und tastete mit ihren Fingern über die Büchertürme, die sich vor ihr im Zimmer erhoben. Sie strich über Goldränder, sammelte einzelne Buchstaben auf und warf sie immer wieder in die Höhe, bis Wörter sich ergaben. Die Wörter versorgte sie säuberlich in passende Bücher. Eines hier. Eines dort. Alles wird gut, dachte sie.
Da zwickte sie plötzlich etwas von hinten in die Ferse. Sie drehte sich um und ehe sie sich versah, war Es wieder Herr im Bücherhaus.
Es warf die Türme durcheinander, hüpfte über die Geschichtenberge und machte Veitstänze. Laut lachend. Sie wollte sich die Ohren wieder zuhalten...
Doch was war das? Draussen hatten die Vögel angefangen zu singen, und mit ihrem Gesang war das verrückte Es auf der Stelle wieder eingeschlafen. Es lag auf dem Bauch, unter einem der Taschenbücher, nuckelte an seinem winzigen Daumen und schnarchte. Es schnarchte tatsächlich. Leise und regelmässig.

Da schnappte sie mit spitzen Finger nach Ihm. Schnell. Sie griff sich das dickste Buch, stopfte Es hinein, klappte das Buch zu und setzte sich drauf.  Sicher ist sicher. Geschafft.
Da sass sie, lächelte und nahm sich das erst beste Buch vom Stapel der durcheinander geworfenen Bücher, schlug es auf ,und las.
„ Zeitgeist“. 1. Kapitel.
 Einfach so.  
Aufräumen konnte sie später immer noch.


22.01.2016                                                                                                        mm

1 Kommentar:

Michi hat gesagt…

nice text. schön, dass es dich noch gibt.
alles liebe & beste